Dies ist Teil 2 des Interviews zum Thema „Value-based Healthcare“ mit der Berliner Ärztin und Forscherin Sophie-Christin Ernst. Im ersten Teil geht es um den grundsätzliche Frage, was Value-based Healthcare eigentlich ist und was diese Art der Versorgung für Vorteile bietet.
Über die Interviewpartnerin

Sophie-Christin Ernst hat ihr Medizinstudium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Université Paris Descartes absolviert und forscht am Fachgebiet für Management im Gesundheitswesen der TU Berlin. Dort beschäftigt sie sich vor allem mit Projekten im Bereich patientenzentrierter Gesundheitsversorgung, Qualitätsmessung und -transparenz. Zuvor war sie Teil des Forschungsteams des Chair for Innovation and Value in Health der Université Paris Descartes. Während ihrer Zeit in Paris galt ihr Forschungsinteresse insbesondere dem Thema „Value-Based Healthcare“, über das wir uns im Interview unterhalten.
Das Interview
Simon: Wie steht Deutschland aus Deiner Sicht im internationalen Vergleich dar, wenn es um das Thema Value-Based Healthcare geht? Welches Land sollten wir uns zum Vorbild nehmen?
In Deutschland ist das Thema Qualität im Gesundheitswesen in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus gerückt. PatientInnen sind präsenter und kritischer geworden – nicht zuletzt durch bessere Verfügbarkeit von Informationen. Das aktuelle System und Rollen darin werden heute stärker hinterfragt. Das sind gute Grundsteine für weitere Entwicklungen in Richtung VBHC.
Leuchtturmprojekte wie die Martini-Klinik oder Initiativen im Bereich PROMs, wie beispielsweise die der Charité und der TU Berlin, bringen das Thema und Konzept stärker ins öffentliche Bewusstsein. Auch Fördermöglichkeiten für PROMs Forschung und Implementierung im Rahmen des Innovationsfonds sowie die Option, erste Selektivverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zu schließen, öffnen weitere Möglichkeiten für erste Erfahrungen im Umgang mit Patienten-zentrierten Dimensionen von Qualität und daran geknüpften Anreizen. Das Krankenhauszukunftsgesetz fördert die Digitalisierung in Krankenhäusern – eine wichtige Grundlage für erfolgreiche Umsetzung von VBHC. In den Förderrichtlinien sind erstmals auch konkret PROMs als mögliche Funktionen digitaler Lösungen für das Behandlungsmanagement aufgeführt.
Auch andere einflussreiche Interessenvertreter wie die Initiative Qualitätsmedizin und Qualitätskliniken.de, die viele Kliniken hinter sich einen, haben große Pilotprojekte im Bereich Qualitätsmessung und -transparenz inklusive PROMs auf den Weg gebracht.
Ich bin also sehr gespannt, wie sich die PROMs und VBHC Landschaft in den nächsten Jahren hierzulande entwickelt. Es lohnt sich dennoch weiterhin, einen Blick über den eigenen Tellerrand zu wagen: Manche Nachbarländer sind was Patientenzentrierung, Qualitätsmessung und -transparenz betrifft schon einige Schritte voraus. In den Niederlanden ist beispielsweise das Thema Outcome Messung unter Einbeziehung von PROMs und Qualitätstransparenz seit einigen Jahren durch das Dutch Institute of Clinical Auditing landesweit stark vertreten. In den sieben Lehrkrankenhäusern, die der Klinikgruppe Santeon angehören, wurde VBHC in mehreren Indikationsgebieten, seit letztem Jahr sogar auch in der Therapie von PatientInnen mit COVID-19 Infektion, umgesetzt. Zusammen machen diese Krankenhäuser immerhin circa 11% des gesamten niederländischen Krankenhausversorgungsvolumens aus.
Auch einige der skandinavischen Länder sind uns bei der Integrierung von PROMs in nationale Qualitätsregister schon einige Schritte voraus. Länder wie Estland haben das Thema VBHC ebenfalls für sich entdeckt und können in der Implementierung auf einer digitalen Infrastruktur aufbauen, die unserer noch einiges voraus ist. Viel Bewegung und ein wachsendes Interesse an PROMs und VBHC lässt sich derzeit in der Schweiz wahrnehmen. Das Universitätsspital Basel als Leuchtturmprojekt im Bereich PROMs unterstützt die dortigen Initiativen aktiv.
Simon: Gibt es Maßnahmen, die die deutsche und/oder europäische Politik heute ergreifen sollte, um die Umsetzung patientenzentrierter Gesundheit zu fördern?
PatientInnen können Dreh- und Angelpunkt für zukünftige Veränderungen in unserem Gesundheitswesen werden – aber das setzt auch mehr “patient empowerment” durch bereits stärker vertretene Stakeholder voraus. Ein guter Start wäre es daher sicher, Gesundheitskompetenz zu fördern und PatientInnen stärker zu involvieren, aktiv nach Bedürfnissen zu fragen und Prozesse oder Angebote stärker daran auszurichten. Auch Qualitätsmessung und -transparenz könnten zu diesem “patient empowerment” beitragen und PatientInnen eine Wahl auf Basis solider Daten ermöglichen. Damit dies gelingt, ist es wichtig hier sowohl PatientInnen als auch medizinisches Fachpersonal von Anfang an einzubinden, um ein Bewusstsein und Verständnis für genutzte Parameter zu schaffen und einen kulturellen Wandel anzustoßen.
Wichtige Aspekte sind sicher auch die Vergütung und sich daraus ergebende Anreize. Um Über- oder Untertherapie zu vermeiden, sollte die Indikationsqualität miterfasst und Ergebnisse transparent gemacht werden. Anreize, wie zum Beispiel Zertifizierungen oder Selektivverträge, die mehr Qualität als nur Quantität fördern, sollten geschaffen bzw. ausgeweitet werden. Um die Erfassung dafür relevanter Daten zu vereinfachen und für alle Leistungserbringer zugänglich zu machen, sollten Mittel zur Finanzierung der hierfür notwendigen Infrastruktur, also IT-Lösungen und zusätzlichem Personal, bereitgestellt werden.
Insgesamt kann die Politik also einen wichtigen Beitrag leisten, in dem Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine patientenzentrierte Versorgung befördern. Um Innovationspotential zu erhalten und Akzeptanz zu schaffen, sollte die Ausgestaltung und Umsetzung jedoch von PatientInnen und medizinischem Fachpersonal mitgetrieben werden.
Simon: 2019 ging eine Studie der Bertelsmann Stiftung durch die Medien, in der die Schließung von mehr als der Hälfte der deutschen Krankenhäuser gefordert wurde. Es gebe in Deutschland schlicht zu viele Krankenhäuser, die nicht genügend spezialisiert seien und in viele Eingriffen keine ausreichende Expertise hätten. Wie beurteilst Du diese Forderung?
Die Forderung wird heute vor Hintergrund der Covid-19 Pandemie natürlich sehr kontrovers diskutiert. Auch wenn die Frage, wie viele Krankenhäuser genau nötig sind, nun vielleicht noch schwerer zu beantworten ist, hat sich an der Tatsache, dass wir in Deutschland zu viele Krankenhäuser und Betten auf Normalstationen haben und unser System einer Reform bedarf jedoch aus meiner Sicht nichts geändert. Die Vielzahl an Betten und damit verbundene Kosten verleiten dem Prinzip “you get what you pay for” folgend dazu, PatientInnen eher stationär aufzunehmen und zu behandeln, auch wenn sie in einem anderen Setting besser versorgt werden könnten.
Ein Krankenhausaufenthalt bietet trotz hoher Standards ein erhöhtes Risiko für Infektionen, mitunter mit multiresistenten, schwer zu behandelnden Keimen. Einer stationären Behandlung sollte also auch eine Risiko-Nutzen-Abwägung vorangehen. Eine Entscheidung zur Aufnahme sollte daher nicht durch zu füllende Bettenplätze motiviert sein, sondern allein aufgrund einer entsprechenden medizinischen Indikation erfolgen.
2020 waren unsere Krankenhausbetten, also vor allem die Betten auf Normalstationen, so leer wie nie zuvor1. Viele PatientInnen sind Krankenhäusern aufgrund eines stärkeren Nutzen-Risiko-Bewusstseins ferngeblieben. Darunter waren leider auch PatientInnen, für die eine Behandlung dort durchaus wichtig und dringend gewesen wäre. Was aber nach der Pandemie möglicherweise bleibt ist eine bessere Abwägung von Nutzen und Risiko einer stationären Behandlung. Zudem entwickeln sich dank Telemedizin und Digital Health auch neue Hybrid-Versorgungsformen und das Thema Prävention rückt stärker in den Fokus, was langfristig einen Rückgang des Bedarfs an Betten auf Normalstationen zufolge haben könnte. In Prävention, die Förderung der Gesundheitskompetenz und eine bessere Primärversorgung der Bevölkerung sollte meiner Meinung nach auch deutlich mehr investiert werden.
Weiterhin bestehen zudem Qualitätsunterschiede zwischen verschiedenen Krankenhäusern. PatientInnen sind diese allerdings nicht unbedingt bewusst. Nicht jede Behandlung erfordert das gleiche Fachpersonal und die gleiche Infrastruktur. Gerade für manche medizinischen Notfälle, deren adäquate Therapie hochspezialisierte Teams mit viel Expertise und eine spezielle Ausstattung benötigt, und wo Zeit ein kritischer Faktor ist – wie bei einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt – ist das nächstgelegene Krankenhaus daher nach wie vor nicht immer die beste Anlaufstelle.
Eine Strategie kann hier sein, sich auf unterschiedliche Versorgungsschwerpunkte zu konzentrieren. Darüber hinaus sind Qualitätsmessung und Qualitätstransparenz wichtig, um Variationen aufzudecken, PatientInnen auf diese aufmerksam zu machen und Veränderungsprozesse anzustoßen.
Simon: Zum Abschluss hätte ich gerne eine Zukunftsprognose von Dir: wann wird Value-Based Healthcare Deiner Ansicht in Deutschland Realität werden?
Ich sehe aktuell viele Elemente mit dem Potential sich in diese Richtung zu entwickeln. Ob später das Label “Value-Based Healthcare” darauf stehen wird, kann ich nicht vorhersehen. Ich bin mir aber sicher, dass zumindest die Elemente „Patientenzentrierung“ und „Nachhaltigkeit“ die Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems in den nächsten zehn Jahren prägen werden. Die Digitalisierung kann und sollte hier aus meiner Sicht eine Schlüsselrolle spielen.
Simon: Vielen Dank für das Gespräch!
Für Interessierte: Hier findet ihr den Bertelsmann-Report zum Thema Patient-reported-outcome measures: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/patient-mit-wirkung/projektnachrichten/proms-implementierung
Kontaktdaten:
Sophie-Christin Ernst erreicht Ihr unter …
1. Ärzteblatt DÄG Redaktion Deutsches. COVID-19-Pandemie: Historisch niedrige Bettenauslastung. Deutsches Ärzteblatt. Published March 12, 2021. Accessed April 23, 2021. https://www.aerzteblatt.de/archiv/218200/COVID-19-Pandemie-Historisch-niedrige-Bettenauslastung