Über den Interviewpartner

Jeremy Schmidt, 25 Jahre alt, ist Arzt und ehemaliges Vorstandsmitglied der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland, bvmd e.V. Er hat im Rahmen seines Medizinstudiums in Heidelberg lokal und national verschiedene Projekte zur Verbesserung der medizinischen Ausbildung geleitet. Zentral war hierbei die Koordination der studentischen Mitarbeit am neuen Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) sowie Gegenstandskatalog (GK), der die Grundlage für Lehr- und Prüfungsinhalte im Medizinstudium darstellt. Hier kristallisierte sich sein großes Engagement für die digitale Transformation der Medizin und die Bedeutung dieser in einer zukunftsfähigen Ausbildung heraus. Auf dieser Basis hat Jeremy Lehrkonzepte mitentwickelt, an Publikationen und Buchbeiträgen mitgewirkt und das Projekt „digitale Medizin“ der bvmd mitinitiiert.
Das Interview
MvM: Hallo Jeremy, wir freuen uns, mit dir über das Thema Digitalisierung in der medizinischen Ausbildung zu sprechen. Du bist einer der Autoren eines Artikels im GMS Journal for Medical Education, in dem ihr eine Übersicht zu Digital-Health-Lehrveranstaltungen an medizinischen Fakultäten vorstellt. Woher kam die Idee zu diesem Artikel?
JS: Im Rahmen meines Engagements in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. haben wir vielfach Kontakt zu engagierten Lehrenden im Bereich digitaler Medizin erhalten, und zugleich in unserem Netzwerk festgestellt, dass diese Pilotprojekte zum einen noch weitestgehend unbekannt sind, und zum anderen die meisten Universitäten enormen Aufholbedarf haben. Um dies wissenschaftlich zu untermauen und transparent zu schildern, haben wir diese Analyse durchgeführt.
MvM: Lehrveranstaltungen zur Vermittlung digitaler Kompetenzen (DiKos) müssen klar von digitalen Lehrangeboten, wie sie im Zuge der Covid-19-Pandemie Verbreitung gefunden haben, getrennt werden. Welche digitalen Kompetenzen braucht denn der “Arzt der Zukunft” überhaupt?
JS: Wir befinden uns inmitten eines großen Wandels, der viele konkrete Kompetenzen in der Anwendung neuer Versorgungsformen wie Telemedizin, digitalen Gesundheitsanwendungen oder der unterstützenden Nutzung von KI-Algorithmen benötigt. Eine gute Zusammenfassung stellt hier der Artikel von Professor Sebastian Kuhn dar.
Ich möchte über die konkrete Kompetenzebene hinaus auf zwei neue Rollenbilder eingehen (in diesem Zusammenhang könnt ihr euch hier TedX-Talk von Jeremy auf YouTube ansehen).
1. Die Zunahme an Qualität und Quantität von Daten und deren Auswertung spielen in allen Bereichen – von Prävention über Diagnostik bis zur Therapie – eine entscheidende Rolle. Diese können patientengeneriert sein, über Wearables oder Gesundheits-Apps, und im Behandlungskontext erhoben werden. Der Umgang mit diesen Daten, die Reflexion, woher die Daten stammen, für welche Fragestellung oder Gruppe sie geeignet sind, und die Einbindung der Ergebnisse und Empfehlungen, die immer statistische Mittelwerten bestimmter Eingabekriterien darstellen, in den individuellen Patientenkontext, ist eine wesentliche Kompetenz. In Erweiterung des bekannten CanMEDS-Rollenschemas von ÄrztInnen wünsche ich mir hier eine neue Rolle des „Data Managers“.
2. Noch viel wichtiger ist mir aber etwas übergreifenderes: Die Studierenden und jungen Ärzt:innen begegnen diesem Wandel aktuell unvorbereitet, sie werden aber jahrzehntelang in einem digitalisierten Gesundheitssystem arbeiten. Die Schnelligkeit und Disruption technologischer Innovation überholt Prozesse der Anpassung von Ausbildungsinhalten zunehmend. Alle, die vor 14 Jahren zeitgleich mit der Vorstellung des ersten iPhones ihr Studium begonnen haben, sind jetzt maximal junge Fachärzt:innen. Wenn man diesen damals erzählt hätte, dass dieses Gerät bald ein EKG schneller und besser vorauswerten kann als sie als Kardiologe, hätte dies vermutlich niemand geglaubt, obwohl der langfristige Trend bereits damals absehbar sein konnte. Wir als Ärzt:innen müssen eine offene und reflektierte Haltung einnehmen, Wandel und Innovation anzuerkennen, diese zum Wohle des Patienten einzuordnen und vor allem aktiv die Entwicklung mitgestalten. Apples EKG-Algorithmus muss primär medizinisch und nicht aus ökonomischen Gedanken entwickelt werden. Wir dürfen Neuerungen, insbesondere dann, wenn sie noch nicht perfekt sind, nicht mit Verweis auf altbewährte Methodik oder damalige Ausbildungsinhalte ignorieren, sondern müssen visionär an diesen Veränderungsprozessen teilhaben und den entwickelnden Unternehmen unsere Kompetenzen in der Patient:innenversorgung klar kommunizieren. In der bvmd wurde hierfür die Can-MEDS-Rolle des Visionärs geschaffen, die als transzendente Achse versucht, der lebenslangen Weiterentwicklung der Medizin eine Haltung zu geben. Wir sind sehr froh, dass auf unsere Initiative diese Rolle im neuen Absolventenprofil des neuen NKLM und GK integriert wurde.
MvM: Die Digitalisierung betrifft also immer mehr Facetten der Medizin und des Gesundheitssystems. Auch wenn jeder einzelne Arzt unabhängig von seiner Fachrichtung zunehmend digitale Tools in seinem direkten Anwendungsbereich einsetzen kann und sollte, braucht es da nicht vielleicht auch einen Spezialisten für diesen Querschnittsbereich – wie stehst du zur Forderung nach einem Facharzt für Digitale Medizin?
JS: Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, hierzu eine klare Position zu beziehen. Eine Facharztbezeichnung erfordert ja spezifische, differenzierbare Aufgabenfelder, auf Basis derer Patient:innen zu bestimmten Anlässen diese Expertise benötigen. Da digitale Technologien derart in allen Bereichen der Medizin integriert sind bzw. sein werden, und nicht nur den Umgang mit ganz bestimmten Krankheitsbildern oder Versorgungselementen verändern, fällt es mir schwer, einen klaren Aufgabenbereich im Kontext der Patient:innenversorgung zu definieren. Allerdings gibt es insbesondere im Bereich Versorgungsforschung, Datenmanagement/ -infrastruktur, Entwicklung und Nutzung von digitalen Plattformen oder Apps durchaus Bereiche, die abseits der direkten Versorgung an Patient:innen spezifische Kompetenzfelder erfordern, und für die es einen großen Bedarf der Mitgestaltung primär ärztlich ausgebildeter Personen gibt. Weiterbildungen, Spezialisierungen, Masterstudiengänge etc. in diesem Bereich sind unabdingbar, ob am Ende auch eine fachärztliche Bezeichnung dabei herauskommt, ist für mich eher sekundär, solange das nicht dazu führt, dass andere Fachgebiete ihre Verantwortung der Mitgestaltung dann „abschieben“, was ich aber auch niemand unterstellen möchte.
MvM: Gibt es deiner Meinung nach eine Fachrichtung, die in der Zukunft durch Digitalisierung besonders beeinflusst werden wird?
JS: Ich denke, das ist nicht ausgehend von der Fachrichtung zu beantworten, sondern dem Ort, an dem digitale Technologien sinnvollen Zusatznutzen bieten. Dies ist übergreifend im Gesundheitssystem, in dem durch Telemedizin, Gesundheits-Apps, Wearables und Datenaustausch via ePA die Versorgungslandschaft und Ärzt:in-Patient:inbeziehung nachhaltig zugunsten höherem Patient:innenempowerment sowie stärkerem Fokus auf Prävention verändern werden. Auf Seite der spezifischen Fächer und medizinischen Fragestellungen sind besonders solche, die in hohem Maße qualitativ und quantitativ ähnliche Datenpunkte erzeugen, diejenigen, in denen besonders KI am meisten unterstützen kann. Millionen radiologische Aufnahmen im gleichen Schnittbereich (cCT, Mammographie, Dermatoskopie) sind schlicht deutlich einfacher mit Algorithmen gezielt und bias-arm auszuwerten, als viszeralchirurgische OPs. Dort helfen dafür VR/AR und Robotik in Ausbildung und Sicherheit. In der ambulanten Versorgung stehen Anamnesetools im Vordergrund. Letztendlich ist „die Digitalisierung“ so facettenreich, dass in jedem Fachgebiet bestimmte Anwendungsgebiete ab einem bestimmten Entwicklungsfortschritt einen Mehrwert bieten können, und andere (noch) nicht. Eine forschende Lernhaltung, Wille zu Austausch und Netzwerkbildung und natürlich auch nötige finanzielle Unterstützung der Forschung und Implementierung können hier unterstützen, die geeigneten Facetten herauszufinden.
MvM: Nach eurer Erhebung bieten 16 medizinische Fakultäten Lehrveranstaltungen zu DiKos an; der Großteil davon erreicht, weil er lediglich im Wahlpflichtbereich angesiedelt ist, nur einen Teil der Studierenden. Wie würdest du den Stand der digitalen Medizin im deutschen Medizinstudium bezeichnen?
JS: Die Lehre zur digitalen Medizin steckt noch in den Kinderschuhen. Die meisten der Angebote der 16 Universitäten sind im Wahlpflichtbereich angesiedelt und erreichen nur einen Bruchteil von – zumeist dann auch ohnehin interessierten – Studierenden. Und selbst von diesen sind an wenigen Universitäten echte Curricula implementiert, mit spezifisch neu entwickelten und aufeinander aufbauenden Inhalten. Diese allerdings sind enorm gelungen und zeigen, dass es nicht an der Definition von Lehrinhalten und geeigneten Lehrformaten mangelt – im Gegenteil, der Facettenreichtum der Thematik erlaubt gerade eine große Kreativität und Interaktion mit den Studierenden.
MvM: Die Lehrveranstaltungen zu DiKo, die von den Unis angeboten werden, scheinen sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und zeitlichen Rahmen zu sein. Was sind aus deiner Sicht “best practices” in Deutschland – an welchem Lehrmodell zur Vermittlung von DiKo könnten sich andere Unis ein Beispiel nehmen?
JS: Ich möchte hier besonders die Module aus Mainz und Witten-Herdecke hervorheben, da ich dort auch die Inhalte und verantwortlichen Personen gut kenne. In Mainz wurde bereits seit Jahren ein erfolgreiches Wahlmodul etabliert, das eine echte Vorreiterrolle eingenommen hat und oft als Bezugspunkt erfolgreicher Integration ins Medizinstudium gilt. Seit diesem Semester bietet die Uni Witten-Herdecke einen umfangreichen Digital-Medicine-Track an, bei dem ich sehr gespannt auf die ersten Erfahrungen bin. Beide Modelle verbinden, dass sie den inhaltlichen Fokus auf den Wandel im praktischen Berufsalltag setzen, facettenreich und interdisziplinär Impulse aus Ethik, Recht, IT und Start-Ups einbinden, und die Studierenden interaktiv und anregend in den Veranstaltungen aktiv teilhaben lassen, um Diskussion und Reflexion zu ermöglichen. Es ist enorm wünschenswert, dass sich zumindest Teile der Module bald auch im Pflichtcurriculum wiederfinden.
MvM: Ende April veröffentlichte der Medizinische Fakultätentag die Version 2.0 des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM). Mit Inkrafttreten der neuen ÄApprO ab 2025 soll der NKLM als bundesweite Grundlage des verpflichtenden Kerncurriculums im Medizinstudium dienen. Wurden DiKos im NKLM deiner Ansicht nach der nötige Stellenwert beigemessen?
JS: Aus meiner Sicht nicht ausreichend. Das Problem liegt hierbei jedoch nicht primär im NKLM-Weiterentwicklungsprozess selbst, sondern im dafür grundlegenden Masterplan Medizinstudium und dem NKLM 1.0, in dem kein Kapitel zu digitalen Kompetenzen vorgesehen ist, so wie bspw. (zurecht) für interprofessionelle Kompetenzen. Dadurch mussten wir mit viel Anstrengung die vorliegenden Basisstrukturen um zusätzliche, rechtlich nicht verbindliche Querschnittsbereiche erweitern, die dann nach und nach in die „verbindlichen“ Kapitel integriert wurden. Somit ist die Verankerung digitaler Kompetenzen zwar gelungen, bleibt jedoch recht beispielhaft. Die ärztliche Approbationsordnung (AO) selbst ist zumindest im Referentenentwurf da einen Schritt weiter gegangen, und hat auch auf der Druck der bvmd hin digitale Kompetenzen als eines der wesentlichen Ziele des Studiums sowie eine verpflichtende Prüfung dieser im finalen Staatsexamen verankert. Letztendlich ist mir aber wichtig zu betonen, dass die verpflichtende Verankerung in NKLM und GK zwar ein wichtiger Schritt ist, besonders als Bezugspunkt für Studierende und Lehrende in fakultätsinternen Gremien. Das Startdatum der neuen AO in 2025 ist aber viel zu spät, um dies als großen Wurf zu betrachten. Digitale Kompetenzen müssen bereits jetzt in die Pflichtcurricula, sowohl integriert in bestehende Fachinhalte, als auch in eigene longitudinale Module.
MvM: Plant ihr weitere Projekte, um DiKos im Medizinstudium stärker zu etablieren?
JS: Wir würden gerne in ein oder zwei Jahren ein Follow-Up unserer Erhebung durchführen, um die (fehlenden) Fortschritte wissenschaftlich aufzeigen zu können. Persönlich steht für mich bald der Start der Weiterbildung an, in der ich aller Voraussicht nach an einer Uniklinik an der Integration digitaler Medizin in die Lehre aktiv mitarbeiten kann. Außerdem versuche ich, mich weiter im bvmd-Projekt „Digitale Medizin“ zu engagieren und dort mit Rat und Tat zu unterstützen. Dort findet Vernetzung, Austausch und Weiterbildung zwischen Studierenden und mit spannenden Gästen aus allen Bereichen statt.
MvM: Wie können sich Studierende am besten dafür engagieren, dass digitale Ausbildungsinhalte im Studium verankert werden?
JS: Jede*r einzelne hat sowohl lokal als auch national die Möglichkeit, Ideen einzubringen und Lehre mitzugestalten. Insbesondere die digitale Medizin bietet enormes Potenzial für enge Einbindung der zukünftigen Generation auch in der Entwicklung von Lehrinhalten. Ich kann wirklich nur jedem ans Herz legen, das in Lehrgremien anzubringen, motivierte Lehrende anzusprechen und die Begeisterung weiterzutragen. Gerade Digitalisierung ist prädestiniert für eine Bottom-Up-Bewegung, in der festgefahrene Strukturen aufgebrochen, um zukunftsfähigen Inhalten und Rollenbildern Einzug zu ermöglichen.
MvM: Wenn du dir eine ganz konkrete Veränderung im Studium wünschen würdest, welche wäre das?
JS: Ein großer Wunsch von mir wäre, dass die letzte Folie jeder Vorlesung/Seminarpräsentation das Thema „Zukunft“ abdeckt. „Wie wird diese Krankheit in 10 Jahren voraussichtlich behandelt? Wie werden wir in 10 Jahren ein EKG interpretieren?“ Dort können und sollten Gewissheiten und vergangene Erfahrungen zurückstehen, und Innovationen, Ideen und aktuellen Forschungsprojekten Raum gegeben werden, um den Studierenden ein Gefühl dafür zu geben, was und wie viel sich verändern wird, bis sie selbst Verantwortung übernehmen. Und die Lehrenden reflektieren ggf. mehr darüber, was eigentlich die wesentlichen Lernziele für die ÄrztInnen von morgen sind.
MvM: Und welche Möglichkeiten zur selbständigen Weiterbildung in Digital Health würdest du Studierenden empfehlen?
JS: „Digital Health Events“ googlen – die Ergebnisse werden wahrscheinlich als Beschäftigung für ein Jahr ausreichen. Es gibt viele engagierte Menschen in allen Bereichen, die diesen Wandel aktiv mitgestalten wollen und dafür motivierte Ärzt:innen benötigen, um auch wirklich die Patientenversorgung verbessern zu können. Der Health Innovation Hub (www.hih-2025.de) hat einen tollen Newsletter und viele Veranstaltungen. Und – ganz wichtig: Digital Health wird in allen Lebenslagen Einzug halten. Was das Fitnessarmband schon jetzt ist, wird in Zukunft vielleicht auch die Sitzposition im Auto, der Supermarkteinkauf und die Schlafposition sein. Ein breites Interesse, große Neugierde und die Bereitschaft, disruptive Gedanken zuzulassen – dieses Mindset ist denke ich die Grundlage, um digitale Medizin aktiv mitgestalten zu können. Nicht weil die Technologie faszinierend ist, sondern weil wir Patient:innen besser versorgen können.
MvM: Wir danken für das Gespräch.
Kontaktdaten:
Jeremy Schmidt erreicht ihr unter:
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/jeremy-schmidt-11625896/
E-Mail: jeremyschmidt95@yahoo.de
Das Projekt Digitale Medizin der bvmd erreicht ihr unter:
https://digitalemedizin.bvmd.de/
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Ein Gedanke zu “Welche Digital Health Skills brauchen Medizinstudenten? Interview über Zukunftsthemen im Medizinstudium mit Jeremy Schmidt (bvmd)”