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Über die Interviewpartnerin
Sophie-Christin Ernst hat ihr Medizinstudium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Université Paris Descartes absolviert und forscht am Fachgebiet für Management im Gesundheitswesen der TU Berlin. Dort beschäftigt sie sich vor allem mit Projekten im Bereich patientenzentrierter Gesundheitsversorgung, Qualitätsmessung und -transparenz. Zuvor war sie Teil des Forschungsteams des Chair for Innovation and Value in Health der Université Paris Descartes. Während ihrer Zeit in Paris galt ihr Forschungsinteresse insbesondere dem Thema „Value-Based Healthcare“, über das wir uns im Interview unterhalten.

Interview
Simon: Hallo Sophie, ich freue mich, mit Dir über das Thema „Value-Based Healthcare“ reden zu können. Bevor wir darüber sprechen, würde ich allerdings erst gerne etwas über Deinen Werdegang erfahren bzw. welche Stationen Dich dorthin geführt haben, wo Du jetzt bist. Wie hat sich Dein Interesse an dem Thema „patientenzentriertes Gesundheitswesen“ entwickelt?
Hallo Simon, ich freue mich in diesem Rahmen einige meiner Erfahrungen und Insights zum Thema patientenzentrierte Versorgung und “Value-Based Healthcare” mit Dir und Euren Lesern teilen zu können.
Selbst bin ich zu diesem Thema auf einigen Umwegen gelangt. Die Triebfeder zum ersten Schritt aus der klassischen “Medizinerlaufbahn” hinaus war vor allem eine zunehmende Unzufriedenheit mit aktuellen Gegebenheiten in der Patientenversorgung: Neben meinem Studium habe ich fast fünf Jahre als Pflegeassistentin im Nachtdienst gearbeitet. Desto mehr Praktika und Famulaturen ich absolvierte, desto deutlicher wurden Probleme in unserem Gesundheitssystem für mich – aber nicht unbedingt, woraus sie letztendlich resultieren und wie man sie lösen könnte.
Während meines Erasmus Aufenthaltes in Paris habe ich die Chance genutzt in einer Metropole zu sein, meine Fühler ausgestreckt und viele Konferenzen besucht. So erfuhr ich auch von dem Programm des “Chair for Innovation and Value in Health” der Université Paris Descartes. Da einige der Stichworte aus der Programmbeschreibung Probleme und Themen adressierten, die mich schon lange beschäftigt hatten, bewarb ich mich auf einen der wenigen Plätze. Knapp ein Semester lang hatten die Teilnehmer des Programms die Chance mit Vertretern aus Forschung, Industrie, Versicherung, Politik und Beratung anhand von Fallbeispielen zu diskutieren, sich auszutauschen und zu lernen. Ich entwickelte ein besseres Verständnis von Gesundheitssystemen, den darin agierenden Stakeholdern und ihren Interessen. Mit dem Konzept von “Value-Based Healthcare” wurde ich auch in diesem Rahmen vertraut. Im Anschluss an das Programm bot mein damaliger Professor mir eine Stelle im Forschungsteam für ein vom EIT Health in Auftrag gegebenes Forschungsprojekt an. Ziel war es, auf Basis von Fallstudien ein Framework für die Implementierung von VBHC in Europa zu entwickeln. So führte ich knapp 60 Interviews mit Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen durch, reiste nach Berlin, Rotterdam, Basel, Kopenhagen, um mir Projekte vor Ort anzusehen und durfte erste Ergebnisse im Rahmen der Copenhagen Summer University vorstellen. Durch die Interviews und Reisen lernte ich spannende Persönlichkeiten kennen und konnte erste Kontakte für meine weitere Forschungstätigkeit knüpfen. Über eines der Interviews lernte ich auch die Arbeitsgruppe an der Technischen Universität Berlin, in der ich seit einem Jahr forsche, kennen. Nach Abschluss des Projektes an der Université Paris Descartes und einem Intensivseminar an der Harvard Business School zum Thema Value-Based Healthcare, bewarb ich mich an der TU Berlin. Seit Anfang letzten Jahres arbeite ich dort vor allem zum Thema Patient-Reported Outcomes, die einen entscheidenden Aspekt von Value-Based Healthcare darstellen.
Simon: Was bedeutet Value-based Healthcare und welche Vorteile bringt dieser Ansatz?
Der Begriff “Value-based Health Care” – oft VBHC abgekürzt – beschreibt eine Neuorientierung und – organisation im Gesundheitswesen, bei der Versorgung stärker an Patient*innen ausgerichtet ist.
Der messbare Patientennutzen rückt in den Fokus. Auch Nachhaltigkeit spielt eine Rolle: Die Ergebnisqualität wird den Kosten gegenübergestellt, die über einen vollständigen Behandlungszyklus hinweg zum Erreichen des Ergebnisses aufgewendet werden. Konkret bedeutet das, dass anders es als aktuell in den meisten Gesundheitssystemen der Fall, sowohl Ergebnisqualität mittels Patient-reported und Clinician-reported Outcome Measures als auch Kosten umfassender als bisher der Fall gemessen und gemeinsam betrachtet werden. Qualitätsmessung im Sinne von VBHC geht also über das Erfassen von Struktur- und Prozessdaten hinaus. Der Fokus liegt auf dem etwas schwerer zu messenden, aber für Patient*innen bedeutsamsten Anteil von Qualität in der Versorgung: der Auswirkung von Krankheit und Therapie auf Lebensqualität und Funktionalität.
Hier liegt auch einer der Vorteile des Ansatzes: Das kontinuierliche Erfassen von Ergebnisqualität und das Vergleichen der Ergebnisse stößt einen Lernprozess an.
Simon: Die Patient reported outcome measures (PROMs) stellen also einen zentralen Parameter zur Messung des Behandlungserfolges dar. Wie werden die PROMs ermittelt?
PROMs sind ein ganz essentielles Element von VBHC. PROMs sind Instrumente zur Erfassung und Bewertung des Gesundheitszustands, der Fähigkeit zur Bewältigung von Aufgaben des täglichen Lebens und gesundheitsbezogenen Lebensqualität wie sie von Patient*innen wahrgenommen werden. Sie werden – anders als Clinician-reported Outcome Measures – von Patient*innen selbst angegeben, es erfolgt bei der Erhebung selbst keine Interpretation durch medizinisches Fachpersonal. Zusammen mit Clinician-reported Outcome Measures (CROMs) ergeben sie ein ganzheitlicheres Bild von Behandlungsqualität, denn wenn es um die Erfahrung ihres Gesundheitszustands geht, können und sollten Patienten*innen als „Expert*innen“ betrachtet werden.
Erfasst werden PROMs mittels validierter Fragen, die direkt von Patient*innen beantwortet werden. Grob kann man zwischen krankheitsspezifischen und generischen PROMs unterscheiden. Es gibt bereits eine Vielzahl standardisierter Fragebögen für verschiedene Erkrankungen oder Indikationsbereiche.
Hier kommt auch Digital Health ins Spiel: Das Erfassen von PROMs über digitale Lösungen ermöglicht einen vielfältigen Einsatz von PROMs, denn so lassen sich die Daten schneller erheben, mit anderen Daten zusammenführen, teilweise automatisiert auswerten und zum Beispiel auch zum Symptommonitoring nutzen.
Simon: Gibt es eine beispielhafte Patientengruppe, die besonders durch VBHC profitieren würde?
Es gibt mehrere Gruppen, die durch eine Umgestaltung der Gesundheitsversorgung im Sinne von VBHC profitieren können. Insbesondere trifft das beispielsweise auf Patient*innen mit komplexen oder chronischen Erkrankungen zu. Für diese Gruppen ist eine stärker koordinierte, patientenzentrierte Gesundheitsversorgung wichtig und von Vorteil. Auch Patient*innen, die sich elektiven Eingriffen unterziehen, bei denen Behandlungsergebnisse zwischen verschiedenen Häusern stark variieren, könnten durch Qualitätsmessung und -transparenz bessere Entscheidungen für ihre Gesundheit treffen oder ihre Hausärzt*innen Empfehlungen bezüglich eines Krankenhauses auf Evidenz stützen.
Der Einsatz von PROMs speziell für Patient*innen mit Krebserkrankungen ist auch von Forschern wie Ethan Bash untersucht worden. Hier konnten sogar positive Auswirkungen auf das Langzeitüberleben festgestellt werden – möglicherweise durch ein besseres Symptom Monitoring.
Auch auf die Kommunikation zwischen Ärzt*Innen und Patient*innen sowie eine gemeinsame Entscheidungsfindung wurden in Studien positive Effekte von PROMs beobachtet.
Simon: Welche Vorteile ergeben sich für Krankenhäuser, Krankenkassen und das gesamte Gesundheitssystem durch die Implementierung von VBHC? Gibt es bereits Erfolgsgeschichten von Krankenhäusern, die nach dem VBHC-Prinzip verfahren?
Es mag sich fast utopisch anhören, aber theoretisch können alle Stakeholder von einer stärkeren Ausrichtung an diesem Prinzip profitieren. Es gibt bereits erste Erfolgsgeschichten von Krankenhäusern oder Krankenhausnetzwerken und mit der Martini-Klinik sogar ein vielzitiertes Beispiel aus Deutschland, an dem sich das schön illustrieren lässt.
Die Martini-Klinik, eine Privatklinik mit enger Anbindung an das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, hat sich auf die Diagnose und Behandlung des Prostatakarzinoms spezialisiert. Sie deckt von Diagnose bis Therapie alles „unter einem Dach“ ab und ermöglicht auch durch diese Organisationsform bereits eine stärker patientenzentrierte Behandlung. Im deutschlandweiten Vergleich erreicht die Martini-Klinik herausragende Ergebnisse in Bezug auf Kontinenz- und Potenzerhalt – Outcomes, die für die Patienten extrem wichtig sind. Neben anderen Faktoren, sind die konsequente Outcome-Messung und die darauf basierende kontinuierliche Weiterentwicklung Schlüssel zu diesem Erfolg.
Geleitet wird die Klinik durch ein sich in Kompetenzen und Schwerpunkten ergänzendes Ärzteteam und bei Entscheidungen wird versucht, die Meinung verschiedener Gruppen miteinzubeziehen. Outcomes werden auch durch die Operateur*innen als Qualitätskontrolle für ihre eigene operative Leistung genutzt und regelmäßig im Team verglichen. Dieser Peer-to-Peer-Vergleich erzeugt eine Form der „Coopetition“ – eine Mischung aus Wettbewerb (competition) und Zusammenarbeit (cooperation). Teammitglieder versuchen einander zu übertreffen, erreichen aber optimale Ergebnisse, indem sie voneinander lernen.
Heute, nur knapp 15 Jahre nach ihrer Gründung, ist die Martini-Klinik weltweit das größte Prostatakarzinomzentrum. Patient*innen reisen teilweise aus anderen Ländern an, um sich in der Martini-Klinik behandeln zu lassen. Die Klinik ist eine der wenigen in Deutschland, die aggregierte Outcomedaten inklusive PROMs direkt auf ihrer Website veröffentlichen. Die Klinik hat mit den fünf größten deutschen Krankenkassen Verträge über integrierte Versorgung ausgehandelt, in denen sich die Martini-Klinik zur Einhaltung festgesetzter Qualitätsziele verpflichtete. Diese Verträge ermöglichten es der Martini-Klinik auch gesetzlich versicherte Patienten zu behandeln.
Dieses Beispiel zeigt: Leistungserbringer, die sich auf Messung ihrer Ergebnisse einlassen, darauf basierend einen Lernprozess anstoßen und gezielt Veränderungen vornehmen könnten durch Public Reporting mehr Vertrauen und Patient*innen für sich gewinnen oder Selektivverträge basierend auf Qualität mit Krankenkassen abschließen.
Auch die Krankenkassen können also von einer hohen Behandlungsqualität und besseren Gesundheit ihrer Versicherten profitieren. Prävention, optimale Behandlung und gutes Krankheitsmanagement können einen Beitrag zu mehr Lebensjahren in besserer Gesundheit leisten und helfen, den Bedarf für kostenintensive Akutversorgung und stationäre Aufenthalte zu verringern.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Je mehr Patient*innen aber auch andere Stakeholder im Gesundheitswesen von dem Ansatz profitieren sollen, desto mehr bedarf es allerdings einer Neuausrichtung und Umgestaltung des Systems. Beispiele für erfolgreiche Implementierung von VBHC in Europa finden sich daher bisher vor allem auf Ebene der Leistungserbringer. Einige haben wir auch in der EIT Health Publikation analysiert und portraitiert.
Simon: Welche Rolle kann die Digitalisierung in der Medizin, beispielsweise telemedizinische Anwendungen, in Bezug auf Value-Based Healthcare spielen?
VBHC ist ganz klar auch eine datengetriebene Gesundheitsversorgung: Daten zu Behandlungsverlauf und Ergebnis, aber auch zu Kosten werden erhoben. Kombiniert mit all den anderen Daten, die Krankenhäuser und Krankenkassen sammeln, aber zunehmend auch Patient*innen selbst generieren, könnten diese interessante Erkenntnisse liefern. VBHC impliziert auch ein lernendes Gesundheitssystem, in dem aus Daten gewonnene Erkenntnisse zu Aktionen führen, die wiederum mittels Daten evaluiert werden und neue Aktionen nach sich ziehen.
Die Digitalisierung kann auch einen großen Beitrag zu mehr patientenzentrierter Gesundheitsversorgung leisten: Digitale Technologien bringen die Medizin dorthin wo Patient*innen sind, Informationslücken können besser geschlossen und Prozesse beschleunigt werden.
Wichtig ist bei all dem, dass die Anwendungen tatsächlich an den Nutzer*innen orientiert entworfen werden und auch deren Privatsphäre schützen.
Simon: Wie betrachtest du die generelle Entwicklung in Richtung einer digitalen Medizin?
Die COVID-19 Pandemie hatte sicher einen Katalysator-Effekt auf Entwicklungen im Bereich der digitalen Medizin. Akzeptanz und Nachfrage auf Seite der Nutzer und Angebote haben deutlich zugenommen.
Das Ende 2019 verabschiedete Digitale Versorgungsgesetz (DVG) hat ebenfalls großes Potential eine digitale Transformation zu befördern, hierzulande wie auch international. Ein wichtiger Bestandteil des DVG ist die Einführung von der Erstattungsfähigkeit von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Nach Überprüfung der Anwendung kann sie einem zentralen Register von Gesundheitsapps hinzugefügt werden. Dort gelistete Apps können von Ärzt*innen und Physiotherapeut*innen verschrieben werden und von allen gesetzlichen Krankenversicherungen Deutschlands, die zusammen knapp 73 Millionen Personen abdecken, erstattet werden.
Das Gesetz schafft so eine Grundlage, um die Einführung und Verbreitung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) zu erproben, Erfahrungen zu sammeln und inkrementelle Verbesserung voranzutreiben.
Insgesamt freut es mich zu sehen, dass es in vielerlei Hinsicht in die richtige Richtung geht. Aus meiner Sicht als Ärztin ist die Entwicklung derzeit allerdings noch stark durch die Industrie getrieben. Ich würde mir wünschen, hier noch mehr Involvierung von Patient*innen und medizinischem Fachpersonal von Entwurf bis Umsetzung zu sehen. Die Perspektive der “Endverbraucher*innen” könnte helfen weitere Probleme zu identifizieren, zu zielgerichteten Lösungen beitragen, mehr Vertrauen schaffen und sicherstellen, dass wichtige Aspekte weiterhin geschützt bleiben.
Simon: Vielen Dank für das Gespräch!
Kontaktdaten:
Sophie-Christin Ernst erreicht Ihr unter
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Interview in zusammengesetzten Wörtern die Sprachform des generischen Maskulinums angewandt. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form für diese Worte geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.
2 Gedanken zu “„Value-based Healthcare“ erklärt für Ärzte und Medizinstudenten – Patient reported outcome measures, Telemedizin, Digitalisierung”