Wir sind überzeugt: Der Arzt der Zukunft braucht technisches Verständnis.
Wie sieht eigentlich der Arztberuf der Zukunft aus? Diese Frage ist aktueller denn je. Denn das Gesundheitswesen wandelt sich immer schneller. Nicht nur neueste biomedizinische Forschungserkenntnisse, sondern gerade auch die technischen Fortschritte in den Bereichen Big Data, Robotik und Telemedizin bergen ein riesiges Potential. Diese Technologien auf die individuelle Patientensituation anzuwenden, ist ärztliche Aufgabe. Dafür müssen Ärzt*innen nicht Informatik oder Ingenieurwesen studiert haben, aber sie sollten ein Grundverständnis für die Funktionsweise mitbringen, um Anwendungsmöglichkeiten, Vorteile und Risiken der Technologien beurteilen zu können. Sonst ist ein verantwortungsvoller Umgang damit nicht möglich.
Trotzdem wird dieses Thema im Medizinstudium an den meisten deutschen Unis eher stiefmütterlich behandelt. Wer sich dafür interessiert, kann sich aber auf anderem Wege ein Grundwissen dazu aneignen. Eine Möglichkeit ist die Gasthörerschaft in einem technischen Studiengang – zum Beispiel im Bachelor-Studium „Medizin-Ingenieurwesen“. Diese Möglichkeit haben wir gewählt – Bene, Mattes und Simon, Medizinstudenten in Göttingen.
Medizin-Ingenieurwesen: zwei Welten, ein Studium
Das Bachelor-Studium „Mediziningenieurwesen“ wird angeboten am Gesundheitscampus der Fakultät Ingenieurwissenschaften und Gesundheit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen (kurz: HAWK).
Das Logo der HAWK
Das Ziel des Studiengangs ist, Ingenieur*innen mit einem Verständnis für die Anforderungen und Bedürfnisse des Gesundheitsmarktes auszubilden. Sie sind diejenigen, die neue Medizintechnik in Diagnostik und Therapie entwickeln – vom Blutzuckermessgerät bis hin zum OP-Roboter.
Dafür brauchen sie natürlich auch ein medizinisches Grundverständnis – Das Studium ist also von Grund auf interdisziplinär konzipiert. Das erleichtert es Medizinstudierenden, dazu Zugang zu finden.
Im 1. Bachelor-Semester werden die Fächer Physik, Mathematik, Informatik unterrichtet – grundlegende Fächer der Ingenieurwissenschaften, außerdem ein Medizin-Modul (welches Medizin für Fachfremde unterrichtet), sowie das Modul Medizintechnik I. Letzteres entspricht genau der Schnittmenge zwischen Medizin und Ingenieurwesen, vermittelt ein grundlegendes Verständnis für Funktionsweise, Anwendung und rechtliche Rahmenbedingungen von Medizinprodukten. Also genau das, was wir suchten. So entwickelten wir den Plan, dieses Modul als Gasthörer zu belegen.
Gasthörerstatus – Allgemeines, Kosten, Bewerbung
Letztendlich bedeutet Gasthörer, dass man in einem Studium eingeschrieben ist, ohne am Ende einen Abschluss zu erlangen. Das bedeutet aber nicht, dass man einfach nur ein Gast wäre, der mit im Raum sitzt. Wir haben eine eigene Email-Adresse bei der HAWK, Zugangsdaten für das StudIP und eine Matrikelnummer. Man kann in den Modulen, in denen man sich angemeldet hat, auch Prüfungsleistungen ablegen und dafür Credits sammeln. Diese würden, sollte man sich theoretisch doch irgendwann regulär immatrikulieren, angerechnet werden. Je nach Hochschule gibt es eine begrenzte Zahl von Semesterwochenstunden, die man als Gasthörer höchstens belegen darf. Mit anderen Worten darf man nicht das normale Semesterpensum der regulären Studierenden leisten.
Eine Gasthörerschaft ist prinzipiell auch mit Kosten verbunden (HAWK: 100-150€ pro Semester). In unserem Fall entfielen diese aber, da wir ja bereits an einer niedersächsischen Uni immatrikuliert sind und Semesterbeitrag zahlen.
Die Bewerbung ist unkompliziert. Sie ist prinzipiell sogar noch bis zu einem Monat nach Beginn des Semesters möglich. Man trägt im Antragsformular ein, welche Module man belegen möchte, und fügt seinen Lebenslauf und ein Lichtbild bei. Wenn man den Nachweis seiner Immatrikulation an einer anderen niedersächsischen Hochschule vorlegt, entfallen die Gasthörergebühren. Sobald das Ganze von dem jeweiligen Studiendekan (in unserem Fall Prof. Dr. Rußmann) unterschrieben worden ist, kann der Antrag an das Immatrikulationsamt der HAWK gesendet werden. Die Bestätigung kommt innerhalb kurzer Zeit per Post.
Somit steht dem Projekt „Gasthörerschaft im Medizin-Ingenieurwesen“ nichts mehr im Wege.
Das Modul Medizintechnik I – Allgemeines
In unserem ersten Semester an der HAWK (Wintersemester 2019/20) haben wir, wie erwähnt, das Modul Medizintechnik I belegt. Das Semester begann bereits im September, was den Vorteil hatte, dass wir uns anfangs auf voll auf die Vorlesungen der Medizintechnik konzentrieren konnten, solange das 5. Semester des Medizinstudiums noch nicht begonnen hatte. Als dann das Medizinstudium weiterging, kam es zwar häufig zu Überschneidungen mit den Medizin-Vorlesungen, diese konnten aber gut von zuhause mit den Powerpoint-Folien nachgeholt werden oder sogar im Fall der Pathologie-Vorlesungen als Videoaufzeichnung angeschaut werden.
Eigentlich hätte das Modul Medizintechnik I auch ein Praktikum beinhaltet, dessen Inhalte hatten wir allerdings bereits im Medizinstudium (Physik und Physiologie) abgedeckt, daher wurden wir vom Praktikum freigestellt. Somit blieb vom Modul die Vorlesung mit 2x 1,5 Stunden pro Woche.
Die Medizintechnik-Vorlesung an der HAWK ähnelte aus Medizinstudierenden-Perspektive eher einem Seminar, da der Studiengang mit 30 Studierenden relativ klein ist. Daher konnten die Studierenden aktiv von den Dozenten mit eingebunden werden. Eine wirklich erfrischende Abwechslung zu den Medizin-Vorlesungen, die, der Größe des Studiums geschuldet, natürlich weniger Interaktionsmöglichkeiten bieten.
Die Vorlesung war zweigeteilt in einen technisch-naturwissenschaftlichen Teil und einen Teil zur Produktentwicklung und -zulassung.
Vorlesungsteil Biosignale: Von Insulinpflastern, EKG
Im technischen Teil ging es vor allem um die Funktionsweise von Biosensoren – zum Beispiel, wie smarte Insulinpflaster den Glucosespiegel messen oder wie ein EKG funktioniert. Diese Anwendungen hatten wir bereits im Medizinstudium kennengelernt, aber mit weniger Fokus auf die technischen Wirkweisen und physikalisch-chemischen Prinzipien. Unter anderem haben wir gelernt, welche Biosensoren für welche Modalität von Biosignal in Frage kommen. Dabei haben wir uns mit den zwei Komponenten von Biosensoren (Rezeptor und physikalischer Wandler) befasst. In diesem Zusammenhang begegneten uns auch altbekannte Formeln aus der Neurophysiologie wie die Hodgkin-Katz-Gleichung und die Nernst-Gleichung.
Da uns auch in der Schule die Physik Spaß gemacht hatte, hat uns dieser Blick auf ein medizinisches Thema durch die physikalisch-technische Brille sehr gefallen. Wer das grundsätzlich spannend findet, aber sich unsicher ist, ob er oder sie mit dem vielleicht etwas eingerosteten Physikwissen in dieser Vorlesung richtig aufgehoben ist, sei unbesorgt. Besonders Vorwissen wird nicht vorausgesetzt und die eingesetzten Formeln werden ausführlich und gut verständlich erklärt. Mit dem Wissen aus dem Medizinstudium kann man die technischen Informationen gut einordnen.
Produktentwicklung und -zulassung: Von Patientenwohl und Ramsch-Medizinprodukten
Der zweite Teil zur Produktentwicklung und -zulassung behandelte vor allem die regulatorischen Aspekte. Konkret ging es dabei um solche Fragen: wie werden Medizinprodukte definiert und klassifiziert? Wie läuft die Produktentwicklung in der Medizintechnik und welche Aspekte müssen dabei berücksichtigt werden? Welche Kriterien hinsichtlich Sicherheit und Wirksamkeit muss ein Medizinprodukt erfüllen, um zugelassen zu werden? Und was passiert nach Markteinführung?
Dass diese Fragen gerade für Ärzt*innen von großer Bedeutung sind, wurde an den Fallbeispielen deutlich, mit denen wir uns in der Vorlesung beschäftigt haben. In besonderer Erinnerung blieb uns der Fall eines des 2013 in Deutschland eingeführten Herzschrittmachers, der den Patient*innen über einen Katheter im Herzmuskel eingesetzt wurde. Hier traten schnell Probleme zutage: unter anderem Perikardergüsse, Batterieversagen, Perforation der Herzkammerwand. Es stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Zulassung auf extrem dünner Datenbasis erfolgt war (33 Probanden, die nur für drei Monate nach der Operation beobachtet worden waren). Hier findet Ihr mehr Informationen zu diesem und anderen Skandalen. Mit anderen Worten hatten Kardiologen Ihren Patient*innen minderwertige Geräte implantiert, vermutlich in dem Vertrauen darauf, dass ein zugelassenes Medizinprodukt “schon sicher ist”. Dies zeigt erstens, dass die deutschen/europäischen Medizinprodukte-Regulation ein gehöriges Update nötig haben (daher die neue Medical Device Regulation, dazu unten mehr). Zweitens zeigt es uns, dass sich Ärzt*innen intensiv mit den Produkten beschäftigen sollten, die sie anwenden – alleine auf die Zulassungsbehörden und die Hersteller zu vertrauen, ist unserer Meinung fahrlässig. Stattdessen sollten sich Ärzt*innen genauen Überblick über die Datengrundlage verschaffen, auf der die Zulassung basiert und die Technik mit einer gesunden Portion Skepsis selbst hinterfragen. Wenn das kein Grund ist, sich mit Medizintechnik im Studium zu beschäftigen…
Bereits angesprochen: die Medical Device Regulation. Ab 2020 soll sie EU-weit Geltung finden und die bisherigen nationalen Medizinprodukte ablösen. Sie verspricht mehr Patientensicherheit und legt strengere Vorgaben an den Zulassungsprozess sowie die Beobachtung nach Markteinführung. Diese neuen Vorgaben der MDR konnten wir Studierende durch die Beschäftigung mit den medizintechnischen Skandalen der jüngeren Vergangenheit gut einordnen; die grundsätzliche Notwendigkeit einer neuen Regelung war mehr als deutlich geworden. Gleichzeitig wurde in der Vorlesung auch immer die andere Perspektive betrachtet, dass eben jede weitere Regulation einen Markteintritt erschwert, gerade für junge Unternehmen. Die Tragweite dessen wird durch den prägnanten Satz „faulty medical devices kill patients, but a lack of medical devices also kills patients“ auf den Punkt gebracht. Insgesamt wurde durch diese Vorlesung klar, welche wichtige Rolle Medizintechnik im Gesundheitswesen spielt, ebenso deutlich wurde aber auch, dass die Verantwortung der Hersteller und Ärzte hinsichtlich Sicherheit und medizinischen Nutzen in der Vergangenheit häufig missachtet worden ist. In diesem Spannungsfeld muss die Politik vermitteln, denn am Ende geht es um die Gesundheit der Patienten.
Die Klausur – mehr als nur Multiple Choice
Uns war es wichtig, am Ende des Moduls nicht nur das Wissen erworben zu haben, sondern einen Leistungsnachweis zu erhalten. Daher haben wir Ende Januar die schriftliche Prüfung abgelegt. Die Prüfung war zweigeteilt entsprechend der Aufteilung der Vorlesung. Hinsichtlich der Aufgabentypen war es eine Mischung aus Multiple-Choice-Fragen, Freitextantworten und Rechenaufgaben – eine erfrischende Abwechslung vom Medizinerklausuren-Alltag. Wir haben die Klausur als fair empfunden, die Vorlesung und die Übungsklausuren der Profs haben wirklich gut darauf vorbereitet. Außerdem hatte man genug Zeit, alle Fragen zu beantworten und die Dozenten sorgten für eine angenehme Atmosphäre während der Prüfung.
Die Modulbescheinigung mit Note wurde uns dann einige Wochen nach der Klausur per Post zugeschickt (witzigerweise auf deutlich höherwertigem Papier als unsere Zeugnisse der 1. Ärztlichen Prüfung… aber das ist ein anderes Thema).
Der Plan für’s Sommersemester und darüber hinaus
Seit März 2020 sind wir für das Modul Medizintechnik II angemeldet. Die Vorlesung ist wieder zweigeteilt, diesmal in die Bereiche „ionisierende Strahlung“ (Anwendungen der Radiologie, Nuklearmedizin, Strahlentherapie) und „nicht-ionisierende Strahlung“ (Anwendung von Lasern in Diagnostik und Therapie). Das Semester hat zwar erst wieder vor Kurzem angefangen, aber wir finden es bereits sehr spannend.
Eine Besonderheit ergibt sich aufgrund der gegenwärtigen Corona-Krise: der Präsenzunterricht wurde bis auf Weiteres ausgesetzt. Stattdessen findet ein Online-Ersatz statt: die Profs zeichnen Ihre Vorlesungen auf Video auf, die Vorlesungsfolien stehen natürlich wie sonst auch zur Verfügung und es werden regelmäßig Videosprechstunden über den Online-Dienst Zoom angeboten. Dies ist, wie wir finden, richtig gut gelöst.
Wir hoffen, auch nach diesem Semester weiter mit der Medizintechnik verbunden zu bleiben. Wir sind sehr froh über diese Möglichkeit, Erfahrungen im Bereich der Medizintechnik zu sammeln und sind sicher, dass wir in unserem Studien- und Berufsleben davon profitieren werden. Einer von uns, Benedikt, hat sogar den Plan ins Auge gefasst, weitere Module zu belegen, um einen tieferen Einblick in die ingenieurwissenschaftlichen Fächer zu erlangen. So hat er im ersten Semester zusätzlich zur MedTech1-Klausur die Prüfungen in Mathematik und Informatik abgelegt. Insofern können wir jedem nur nahelegen, sich mit dem Thema der medizinischen (Zukunfts-)Technologien auseinanderzusetzen. Eine Gasthörerschaft ist auf jeden Fall ein geeigneter Rahmen dafür.
Für die Zukunft hoffen wir, dass die Verantwortlichen diese Entwicklung in der Medizin erkennen und das Medizinstudium so anpassen, dass der Stellenwert der Medizintechnik sowie anderer technologischer Trends im Curriculum reflektiert wird. So könnte beispielsweise der Schwerpunkt Medizintechnik gewählt werden und die entsprechenden Module direkt in den Studienplan integriert werden. Aus dieser Verknüpfung können spannende Projekte zwischen Medizinern und Ingenieuren entstehen.
Wie steht Ihr zu dem Thema technischer Bildung in der Medizin? Haltet Ihr das auch für wichtig? Wie nähert Ihr Euch diesen Zukunftsfragen? Wir freuen uns auf Eure Rückmeldungen in den Kommentaren.
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